Es gibt in unserem Gesundheitssystem viele Baustellen – aber eine davon sticht besonders heraus. Nicht, weil sie am teuersten wäre. Nicht, weil sie die Schlagzeilen dominiert. Sondern weil sie uns moralisch entlarvt: Wir kümmern uns am wenigsten um die, die am wenigsten für sich selbst sprechen können.
Kinder.
Wir investieren Milliarden in Hochtechnologie, Gentherapien, Robotersysteme und Operationssäle. Wir stecken Geld in Strukturen mit zweifelhaftem Nutzen. Wir pumpen Unsummen in die Versorgung der über 85-Jährigen – übrigens die teuerste Altersgruppe im Gesundheitssystem – genauso teuer wie alle anderen Gruppen zusammen.
Aber für Kinder- und Jugendmedizin? Für Prävention? Für psychische Gesundheit unserer Jüngsten?
Bleibt erstaunlich wenig übrig.
Und das ist keine polemische Überspitzung. Das sind die nackten Zahlen:
Bis zu 20 Prozent aller Schülerinnen und Schüler leiden unter behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen. Nicht Befindlichkeiten. Erkrankungen.
Nur 11 Prozent der Mädchen und 21 Prozent der Jungen bewegen sich täglich ausreichend.
Rund 15 Prozent der Kinder sind übergewichtig.
Psychosomatische Beschwerden – Bauchschmerzen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen – steigen seit Jahren rapide an.
Und nun stellen Sie sich vor, irgendeines dieser Kinder würde laut sagen:
„Das tut mir nicht gut.“
Tun sie aber nicht. Kinder äußern keine Systemkritik. Sie gehen nicht auf die Straße, drohen nicht mit Streik, schreiben keine Leserbriefe und haben keine Stimme bei Wahlen. Sie essen, was man ihnen vorsetzt, sie sitzen vor den Geräten, die man ihnen hinstellt, und sie ertragen die Wartezeiten, die man ihnen aufzwingt, weil Therapieplätze fehlen oder Entwicklungsdiagnostik „gerade nicht geht“.
Kinder sind das perfekte Opfer eines Systems, das sich lieber um teure Endstadien kümmert als um frühe Weichenstellungen.
Prävention wäre billig. Folgen sind unbezahlbar.
Jedes Kind, das heute keine Hilfe bekommt, wird morgen ein Erwachsener mit chronischer Erkrankung, Beziehungsproblemen, psychischen Störungen oder eingeschränkter Leistungsfähigkeit.
Das ist nicht hart formuliert – das ist epidemiologisch gesichert.
Wir verschulden uns nicht in Euro.
Wir verschulden uns in Zukunft.
Und das ist der eigentlich peinliche Teil:
Wir wissen es.
Seit Jahren.
Und dennoch bleibt Kinder- und Jugendgesundheit das Stiefkind des Systems.
Das gilt für die pädiatrischen Stationen, die geschlossen werden, weil sie „ökonomisch nicht darstellbar“ sind.
Für Psychotherapieplätze, auf die Jugendliche monatelang warten.
Für Entwicklungsdiagnostik, die Praxen vermeiden, weil sie kaum vergütet wird.
Wenn man ganz ehrlich ist, dann zeigt sich hier die hässlichste Seite unseres Systems:
Es rechnet sich mehr, Krankheiten spät zu behandeln, als Kinder früh zu stärken.
Die stille Schande
Ich habe in meiner Karriere viele Fehlentwicklungen erlebt. Manche waren bürokratisch, manche moralisch fragwürdig, manche schlicht dumm.
Aber nichts treibt mich so um wie dieser Punkt: Die Vernachlässigung der Kinder ist kein Kollateralschaden. Sie ist ein systemischer Fehler, den wir bewusst in Kauf nehmen.
Wir reden viel über Respekt gegenüber der älteren Generation.
Völlig zu Recht.
Aber wo ist der Respekt vor der nächsten Generation?
Sie sollen später unsere Renten zahlen, unsere Pflege finanzieren, unsere medizinische Versorgung sichern – und wir investieren heute weniger in sie als in jede andere Altersgruppe.
Wenn wir diese Entwicklung nicht stoppen, wird uns das nicht nur finanziell einholen.
Es wird uns gesellschaftlich einholen.
Psychisch, körperlich, sozial.
Wenn wir etwas ändern wollen, müssen wir genau hier beginnen
Nicht bei der nächsten Krankenhausreform.
Nicht beim nächsten Rabattvertrag.
Nicht bei der x-ten Digitalstrategie.
Sondern dort, wo die Hebel am längsten sind:
- Prävention im Kindesalter
- Bewegungsförderung und Ernährung
- Frühe psychische Unterstützung
- Ausreichende Entwicklungsdiagnostik
- Entlastung der Kinderkliniken
- Faire Vergütung für die Pädiatrie
- Echte Priorisierung von Ressourcen
Es ist eigentlich ganz einfach:
Wer Kinder stärkt, stärkt ein System.
Wer Kinder vernachlässigt, schwächt es für Generationen.
Die Frage bleibt: Haben wir den Mut, diese Wahrheit auszusprechen?
Denn im Kern geht es nicht um Medizin.
Es geht um Haltung.
Und manchmal ist die größte medizinische Innovation schlicht die Entscheidung, endlich dort zu investieren, wo es Sinn macht – nicht dort, wo es sich rechnet.