Da fiel mir noch etwas zu den unterschiedlichen Perspektiven ein. Vielleicht macht es ja uns Menschen aus, dass wir im Gegensatz zu Tieren unsere Sichtweise ändern können. Zumindest theoretisch. Der einen Person fällt es eher leicht, während die andere so eingefahren oder durch persönliche Interessen so fokussiert ist, dass er/sie die eigene Perspektive gar nicht ändern will. Warum auch. Sie vermittelt Sicherheit, Berechenbarkeit und Konstanz.
Manche wollen ihre Sichtweise also gar nicht verändern oder nur ab und zu. Fluch oder Segen? Dilemma oder Schicksaal? Tiere können ihre Sichtweise nicht verändern. Der Frosch muss sich nun einmal anstrengen, um überhaupt einmal über den „Tellerrand“ zu schauen. Der Adler ist vom Schicksal mit Weitblick gesegnet. Beide haben sich an ihre Perspektive gewöhnt., denn sie kennen nur die ihre.
Der amerikanische Psychologe Wayne Dyer teilte einmal in einem Gleichnis die Menschen in eben diese Frösche und Adler ein. Dabei steht der Adler als Metapher für vorausschauende Wahrnehmung und dann auch für die uneingeschränkte Übernahme der Verantwortung für die eigenen Ergebnisse. Die Frösche dagegen quaken viel und fühlen sich von ihrer Umwelt eingeengt und abhängig. Aus der Perspektive eines Frosches wirkt alles, was ihn umgibt, bedrohlich – und das erzeugt Machtlosigkeit. Es gibt für ihn offenbar keine Möglichkeit, selbst etwas zu bewegen. Adler dagegen behalten den Überblick, haben beim Fliegen eine Distanz zwischen sich und der Welt. Auf der einen Seite also die, die nur lamentieren und passiv alles ertragen, und auf der anderen Seite die Anpacker, die Menschen, die lieber handeln als zweifeln und die es vorziehen, etwas zu verändern, statt sich auszujammern.
In meinem Buch beschreibe ich meine Arbeit als Chirurg, beispielhaft für Tätigkeiten im Hochrisikobereich. In anderen Berufen können Fehlentscheidungen Arbeitsplätze vernichten, zu finanziellen Verlusten führen oder Wählerstimmen kosten. Und dann gibt es eben auch Berufe, in denen schwerwiegende Entscheidungen zu treffen sind und bei denen es mitunter um „Leben und Tod“ geht. Wie alle anderen Entscheider habe ich es nicht nur in der Hand, mein eigenes Leben zu gestalten, zu verbessern und zu verändern. Ich übernehme bei einer Operation auch die Verantwortung für das Leben eines anderen Menschen und werde eher in die Sichtweise des Adlers gedrängt. Nun wirst du dich wohl ebenfalls eher als Adler fühlen, denn den meisten erscheint diese Perspektive ganz einfach attraktiver. Doch sicher kennst du zahlreiche Frösche. Überall sind sie anzutreffen. In Pausenräumen und mitunter auch in Meetings – und in jedem Fall an den Stammtischen – wird über all das Schlechte in dieser Welt im Allgemeinen und besonders im eigenen Leben geklagt.
Auch als Führungskraft musst du dir häufig Gejammer anhören. Und dann passiert etwas, das du eigentlich gar nicht willst: Du jammerst mit – wenn nicht über Vorgesetzte, die Geschäftsführung oder die Konzernleitung, dann vielleicht über die Politik, die öffentliche Verwaltung oder die Medien. Denn es fällt mitunter leicht, in die Tiraden einzustimmen, und möglicherweise macht es auch Spaß, denn das gemeinsame Blasen von Trübsal und Beschweren kann eine Art Gemeinschaftssinn erzeugen. Es kann durchaus zusammenschweißen. Wenn man sich über die gleichen Dinge echauffiert und beklagt, sitzt man auf einmal – ohne dass man sich versieht – im Gras, schaut in die Luft und bemerkt: „Guck mal, da ist ja ein Adler.“ Zum Glück können Menschen Perspektivwechsel und „Ich kann nicht!“ bedeutet in Wirklichkeit „Ich will nicht!“