Prof Dr Rüdiger Horstmann

Perspektivenwechsel

Die Umwelt bleibt, wie sie ist, doch durch eine Änderung deines Blickwinkels werden dir neue Wege eröffnet.
Es hilft, manchmal eine (andere) Brille aufzusetzen

Es hilft, manchmal eine andere Brille aufzusetzen

Wenn du dich mit einer Gruppe von Menschen zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit an einen Tisch setzt, wird sich wahrscheinlich jeder genau wieder an den Platz setzen, den er vor der Pause eingenommen hatte. Wenn noch mehrere Pausen eingelegt werden, wird sich dieses Platzrecht festigen, auch wenn man keinerlei persönliche Sachen während der Pause zurücklassen durfte. Das Individuum hat seinen Platz gefunden. Zu Hause am Esstisch, bei SchülerInnen im Klassenraum und auch bei Konferenzen ist dieses Phänomen zu beobachten. 

Das Gewohnte an deinem Sitzplatz verleiht dir Sicherheit. Ebenso fühlst du dich mit deinen festen Standpunkten und gewohnten Perspektiven sicher. Wenn deine persönliche Sichtweise über Recht und Unrecht, was gut und schlecht oder was richtig und falsch ist, ins Wanken gerät, fühlst du dich unsicher. Wenn du aus einer bestimmten Perspektive denkst und redest, weißt du, dass du in deinem Umfeld nicht aneckst oder zumindest, wo du auf Widerstand stößt. Du fühlst dich in deiner Umgebung sicher.

Bei Seminaren bitten wir die Teilnehmer, nach einer Pause sich einen anderen Sitzplatz und damit zwangsläufig eine neue Nachbarin beziehungsweise einen neuen Nachbarn zu suchen. Ein Sitzplatzwechsel vermittelte eine neue Perspektive auf die Bühne und auf die anderen Teilnehmer. Und wir stoßen durchaus auf Ablehnung und Irritationen, wenn sich Teilnehmer dann in ihrer Sicherheit bedroht fühlen.

Perspektivenwechsel führen zu Offenheit. Wenn du nicht grundsätzlich auf deinem Standpunkt verharrst und sogar deinen Fokus auf einen möglichen Perspektivwechsel legst, wirst du den Meinungen und Argumenten anderer Menschen aktiver zuhören. Du kannst dir dann uneingeschränkt neue Standpunkte anhören, ohne während des Zuhörens Beweise für deine eigene Sichtweise zu suchen. 

Nun können Perspektivenwechsel im Rahmen deiner Weiterentwicklung rational und freiwillig vorgenommen werden, oder sie werden dir vom Leben aufgezwungen. Dazu zwei Beispiele: Jahre lang hast du dich um deine Kinder gekümmert, hast sie aufgezogen und Ihnen beigebracht, auf eigenen Füßen zu stehen. Und auch als sie längst selbstständig waren, hast du sie noch unterstützt und ihnen (auch ungefragt) mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Und eines Tages wird die Waagschale kippen, und deine Kinder müssen sich um dich kümmern, weil du alt, krank, gebrechlich oder was auch immer geworden ist. Nicht einmal diesen erzwungene Perspektivwechsel akzeptiert jeder, ignoriert stattdessen die veränderte Realität und verbleibt in der Vergangenheit verhaftet.

Während deines Arbeitslebens hast du dir deinen Lebensabend ausgemalt. Gemeinsam mit deinem Partner beziehungsweise deiner Partnerin wirst du mehr freie Zeit haben, für dich und deine Hobbys und deine Enkelkinder und für euch zu zweit zum Reisen in fremde Länder. Eine ganze Liste von schönen Orten hat sich in deinem Kopf angesammelt. Und dann, ganz plötzlich und unvorbereitet wirst du mit Krankheit oder Tod konfrontiert. Niemand kann sich vor solchem Leid schützen, das alles auf den Kopf stellt und das dir den Boden unter den Füssen wegzieht. Die Zukunft wird sich ganz anders gestalten, als du sie dir vorgestellt hast. Menschen reagieren auf solch einen erzwungenen Perspektivwechsel mit ganz unterschiedlichen Emotionen und Verhaltensweisen. Sie leugnen, sind wütend, verhandeln mit dem Universum oder werden depressiv. Jeder gestaltet und verlängert damit individuell die Zeit seines Leidens. Die Lösung liegt in der Akzeptanz des Leids und in dem Wechsel der Perspektive unter den Neuen Voraussetzungen. Schicksalhaftes Leid ist unvermeidbar – auf die Länge des Leidens hast du Einfluss. 

Niemand darf sagen, dass ein Perspektivenwechsel leicht ist. Weder der selbst gewählte, der dann zu Weiterentwicklung, Wachstum und Empathie führen kann, noch der erzwungene, der Akzeptanz und die Neuausrichtung des Lebens zur Folge haben kann. Beides lohnt sich. Die Umwelt bleibt, wie sie ist, doch durch eine Änderung deines Blickwinkels werden dir neue Wege eröffnet.

Newsletter abonnieren

Prof. Dr. Rüdiger Horstmann

Prof. Dr. Rüdiger Horstmann

Prof. Dr. med. Rüdiger Horstmann, seit 40 Jahren Facharzt für Chirurgie, war Chefarzt und Ärztlicher Direktor eines Krankenhauses in Münster sowie Leiter des Adipositas-Centrums Münster. Er arbeitet jetzt als Buchautor, wird zudem vermehrt als Keynote-Speaker angefragt und ist für Kliniken und Unternehmen als Coach für Teamprozesse mit Schwerpunkt auf der Integration aller Mitarbeitenden tätig.

Interesse geweckt?